Wintermärchen


Auf dem Baum vor meinem Fenster

Saß im rauhen Winterhauch

Eine Drossel, und ich fragte:

"Warum wanderst du nicht auch?

 

Warum bleibst du, wenn die Stürme

Brausen über Flur und Feld,

da dir winkt im fernen Süden

Eine sonnenschöne Welt?"

 

Anwort gab sie leisen Tones:

"Weil ich nicht wie andre bin,

die mit Zeiten und Geschicken

Wechseln ihren leichten Sinn.

 

Die da wandern nach der Sonne

Ruhelos von Land zu Land,

Haben nie das stille Leuchten

In der eignen Brust gekannt.

 

Mir erglüht´s mit ew´gem Strahle

- Ob auch Nacht auf Erden zieht -

sing´ich unter Flockenschauern

Einsam ein erträumtes Lied.

 

Wundersamer Trost der Schmerzen!

Doch nur jene kennen ihn,

Die in Nacht und Sturm beharren

Und vor keinem Winter fliehn.

 

Dir auch leuchtet hell das Auge;

Deine Wange zwar ist bleich;

Doch es schaut der Blick nach innen

In das ew´ge Sonnenreich.

 

Laß uns hier gemeinsam wohnen,

Und ein Lied von Zeit zu Zeit

Singen wir von dürrem Aste

Jenem Glanz der Ewigkeit."



(* 1862-10-07, † 1926-03-05)



Weitere gute Gedichte von Otto Ernst zum Lesen.




Kommentare


  • Stephan Topitz
    Wunderbar vertont wurde dieses Gedicht von der Gruppe „Darkwood“.
    Es findet sich auf der CD „Notwendfeuer“.