Liebesahnung


1. Das Mädchen.

 

Die Vesperglocken klingen

Im abendlichen Schein,

Von Rüdesheim nach Bingen,

Herüber den breiten Rhein.

 

Rings hat an steilen Wänden

Auf Steingeröll, am Kant'

Von sonnigen Geländen

Die Reb' ihr Netz gespannt.

 

Die hohen Kuppen blauen,

Zerfallne Burgen stehn,

Und kühne Warten schauen

Herunter von den Höhn.

 

Dort ranken rothe Winden

Und Schlingkraut sich empor;

Es weht der Duft der Linden

Durch das versunkne Thor.

 

Im Rahmen mächt'ger Bogen

Senkt sich der Sonne Schild,

Es rauschen laut die Wogen

In Dämmerung gehüllt.

 

Und sinnend sitzt am Strande,

Zum Knie geschürzt das Kleid,

Still an des Wassers Rande

Die jugendliche Maid.

 

Sie wusch die weißen Füße

Wohl in der frischen Fluth,

Und rosig glüht das süße

Antlitz in Abendgluth.

 

Noch brennt auf ihrem Munde

Der erste Kuß, entzückt

In einer sel'gen Stunde

Den Lippen aufgedrückt! –

 

Sie scheint den Fluß zu fragen:

»O Wellen, sprecht ein Wort!

Wohin habt ihr verschlagen

Den Knaben, an welchen Ort?«

 

»Warum, du schnöde Welle,

Trägst du ihn fort von hier?

Was zogst du gar so schnelle

Ihn aus den Armen mir?« –

 

Die raschen Wellen treiben,

Zur Antwort giebt der Fluß:

»»'s kann halt nichts ewig bleiben,

Am mindesten – ein Kuß!«« –

 

2. Der Knabe.

 

Rausche, rausche kühler Fluß,

Rausche immer zu;

Knabe schläft an deinem Ufer,

Träumt in süßer Ruh.

 

Träumet, feuchte Wasserfrauen

Hätten ihn erfaßt,

Führten ihn in einen hohen

Goldenen Palast;

 

Singen, schlingen Zaubertänze,

Und er steht bethört,

Und er träumt von Melodien,

Nie zuvor gehört.

 

Harfentönen, Cymbelklängen,

Wunderbarem Laut.

Träumt von Reizen, die der Knabe

Nie zuvor geschaut;

 

Weißen Busen, vollen Armen,

Hüften schlank und rund,

Stolzen Nacken, goldnen Locken,

Rosengleichem Mund!

 

Er erwacht – fort sind die Hallen,

Fort der Nixen Chor;

Und die Welle treibt die Schäume

Rauschend wie zuvor.

 

Doch in seiner Seele Tiefen

Bleibt ein dunkles Bild,

Bleibt ein neu erwachtes Sehnen,

Heiß – und ungestillt!



(* 1790-02-28, † 1862-03-16)



Weitere gute Gedichte von Joseph Christian von Zedlitz zum Lesen.