Abendphantasie


Abend war's, auf fernem Steige

Ging ich in des Waldes Grün,

Wilde Apfelblüthenzweige

Wehten Flocken auf mich hin;

Tausend süße Stimmen drangen

Fröhlich durch den kühlen Hain,

Buntbeschwingte Vögel sangen

Süße Liebesmelodein.

 

Wo die Wipfel nicht so dicht

Aeste in einander woben,

Glänzt ein sanftes Dämmerlicht,

Von der Abendröthe droben,

Nieder auf die Silberhelle,

Wo der Glühwurm funkelnd flog,

Und die zitternde Libelle

Sich im Hauch des Winkes bog.

 

Alles fühlte stille Feier

In der herrlichen Natur,

Jeder Busen hob sich freier

In dem Abendglanz der Flur;

Jedes Lüftchen rauschte Freude,

Jede Welle hüpfte Lust,

Und der Lenz im Strahlenkleide

Hauchte Wonne in die Brust.

 

Mir nur war das Herz beklommen,

Und des Frühlings Rosenlicht,

Das am Horizont entglommen,

Nahm des Busens Bürde nicht.

Sehnsucht nach den lichten Räumen,

Die der goldne Glanz beschien,

Wo aus tausend zarten Keimen

Ew'ger Liebe Blumen blühn:

 

Zog mich nach des Aethers Fernen,

Und begeistert rief ich aus:

Hinter jenen Silbersternen,

Ja, dort ist der Liebe Haus!

Dort verstummen alle Schmerzen,

Was geschieden, sieht sich dort,

Ewig schlägt dort Herz am Herzen,

Keine Trennung reißt uns fort.

 

Bilder der verstorbnen Lieben

Glaubt' ich rings um mich zu sehn;

Wie ein Blumenduft von drüben,

Fühlt' ich ihren Athem wehn.

Meine Mutter! – schluchzt' ich weinend:

Ruft mich Deine Stimme nicht

Dorthin, wo die Treuen einend

Immortellenkranz umflicht?

 

Geister von den Tapfern allen,

Die in mancher heißen Schlacht

Blutig um mich her gefallen

In die finstre Todesnacht,

Sah ich aus besternten Hallen,

Rings von Lorbeersproß umlaubt,

Mir verklärt entgegen wallen –

Ach, ich fand manch liebes Haupt!

 

Und ich streckte meine Arme

Nach den Waffenbrüdern hin,

Liebend sie an dieses warme,

Treue Bruderherz zu ziehn;

Aber ihre Schatten bebten

Fort im letzten Rosenstrahl,

Und die Seligen entschwebten

Heim, zum goldnen Friedensthal!

 

Horch! durch lindbewegte Zweige

Rauscht es mir vernehmlich zu:

Wandle, strebe, dulde, schweige, –

Ueber Gräbern wehet Ruh'!

Eben aus den Wolkenhüllen

Trat der Vollmond und begann,

Ruhig wallend, seine stille,

Langgewohnte Pilgerbahn! –



(* 1790-02-28, † 1862-03-16)



Weitere gute Gedichte von Joseph Christian von Zedlitz zum Lesen.