Maienspuk


Als die roten Kastanienblüten fielen

Mit dem feurigen Gold in ihren Kelchen

Vor dem neuen, blitzeblanken Schulhaus,

Standen wir gereiht zum Maienauszug,

Buben, Mädels, nach dem gleichen Alter

Schar und Schar geschwisterlich gepaart.

Meiner Klasse Fahnenträger war ich;

Und in schwarzen Locken, leichten Ganges,

Kam zu mir mit ihrer Schwesterfahne

Eine Schlanke, die ich noch nicht kannte,

Sagte nichts, und nickte nur, das hieß:

"Guten Morgen, Bruder Weggenosse!"

Und ich nickte wieder, stumm wie sie:

Denn ich staunte, wie sie wunderherrlich

In dem weißen Putz, der blauen Schärpe,

Mit dem schmalen, stolzgebauten Nacken,

Mit dem zartbehauchten leuchtenden Antlitz

Und den sanften, zierlichen Elfenarmen -

Und ich schaut' ihr in die schimmerdunklen

Augen, und sie blickte froh entgegen,

Lächelte, und zog an ihrem Handschuh ..

Ueber uns aus sonnentrunknem Junggrün

Sank der Purpur und das Gold der Blüten,

Unsre Fahnen flatterten: und ich liebte

Meine zauberschöne Maienbraut!

Immer, wenn die roten Blüten fallen

Mit dem feurigen Gold in ihren Kelchen

Vor dem alten, grauverwitterten Schulhaus,

Bleib' ich stehn, als hätt' mich wer gegrüßt.

Leis dann rauscht es wieder wie von Fahnen -

Und ich spüre mit geschloßnen Lidern,

Daß sie wieder sich zu mir gefunden,

Erste Liebe mit den schimmernden Augen,

Allererste mit den duftenden Locken..

Und ich fühl' mich wieder schülerselig,

Trag' ich längst auch keine Fahne mehr.



(* 1866-12-04, † 1928-03-29)



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