Gesang der Exakten


War's um sechs Uhr oder sieben,

Wann er diesen Vers geschrieben?

War's vielleicht präzis halb achte,

Als er zu Papiere brachte

Diesen Einfall, diesen Witz?

 

War es vor, war's nach dem Essen,

Als bei Lotten er gesessen?

Was des weitern dann geschehen,

Durfte, fragen wir, es sehen,

Der Geliebten kleiner Fritz?

 

Wie war's mit Corona Schröter?

Rosenröthlich oder röther?

Was ist Sage, was Geschichte?

Auch auf diesen Streitpunkt richte

Sich die Nase scharf und spitz!

 

Mariane – wer es wüßte,

Ob er nur die Stirne küßte,

Ob er, um nicht bloß zu nippen,

Kühnlich Lippen drückt' auf Lippen,

Amors älterer Noviz?

 

Ach, die Knöpf' an seinem Rocke,

Ach, die Haare jeder Locke,

Wer sie pünktlich könnte zählen,

Würde nicht den Weg verfehlen

Zu der Wahrheit tiefstem Sitz.

 

Nur ein Schwätzer kann verübeln

Dieses Stöbern, Krabbeln, Grübeln,

Diese kritisch feine Beize,

Frucht der süßen Prickelreize,

Diesen edlen Wunderfiz.

 

Aechter Forschung Morgenröthe

Ueber Lessing, Schiller, Goethe,

Ueber groß und kleine Dichter

Glüh' empor, verkünde Lichter

Neu und blendend wie ein Blitz!

 

Laß ersterben das Abstrakte,

Laß erblühen das Exakte!

Leuchte, zeuge, ziehe, züchte

Wahrer Literargeschichte

Musterhafteste Miliz!

 

Laß ersterben die Aesthetik,

Laß erblühn die Arithmetik!

Schüler auf zum Heiligthume

Der addirten Bröselkrume

Walle feierlichen Schritts!

 

Geist, Entwicklungsgang und Fatum:

Ihr Geheimniß ist das Datum,

Die Geschichte ist Kalender,

Leb' er hoch, der Einsichtspender

Und sein Segen, die Notiz!



(* 1807-06-30, † 1887-09-14)



Weitere gute Gedichte von Friedrich Theodor Vischer zum Lesen.