An das Mitleid


Dich, der schaffenden Gottheit,

Nachgeborne bessere Schwester,

Mitleid, dich will ich preisen!

 

Unergründlich an Geist ist jene,

An gestaltenzeugender Bildnerkraft,

Unergründlich an Grausamkeit;

Auf Wechselfolter und Wechselmord

Hat sie die strotzende, lebenstrunkne,

Jauchzende Schöpfung angelegt

Und als Meister in Mord und Folter

Obenauf den Menschen gesetzt.

 

Die Schwester, da sie es werden sah,

Legte das Haupt ihr an den Busen,

Den marmorgleichen, und flehte, flehte.

Kein Wort, kein Hauch, kein Blick

Sprach von Erhörung. Sie wandte sich ab

Und seufze und schwieg und rührte die breiten

Silberschwingen und schwebte nieder,

Nieder zur Erde;

Himmlischen Balsams ein Gefäß

Trug sie sorgsam in weicher Hand.

 

Als sie der Erde näher kam,

Wuchs an ihr Ohr eine Welt von Tönen,

Wie sie des Sterblichen eingeschränkte

Hörkraft nimmer und nie vernimmt.

Auch die Schaar der armen Geschöpfe,

Denen der Laut der Klage versagt ist:

Das edle Roß, das in Jugendfeuer

Stolz und wiehernd den Reiter trägt

Und im Alter langsam zu Tod gequält wird,

Weil es unter des Treibers Hieben

Den Schmerz in die Luft nicht heulen kann,

Der Wurm im Grase, der Schmetterling,

Der Fisch und die winzigen Thierchen all

Im Reich des Wassers, der Luft, der Erde –:

Ihrem Gehör, dem geisterfeinen,

Schwiegen alle die Stummen nicht;

Aber die andern, denen die Klage,

Denen der arme Trost gegönnt ist,

In Lauten zu sagen, was sie leiden:

Auch ihr leisestes Weh und Ach,

Auch das gepreßte, das halb erstickte

Stöhnen der wunden, tödtlich gekränkten

Menschenseele, Alles vernahm sie

Und Alles, wie fern es mochte verhallen,

Klang ihr, als tönt' es in nächster Nähe.

 

Und nun – kein Wort hat die Sprache dafür,

Welch' ein Lärm, aus jeglichem Ton

Des Jammers gehäuft, aus Schluchzen und Aechzen,

Aus Wimmern, aus wildem Schrei und Gebrüll,

Aus markdurchbohrendem, dumpfem O!

Aufschlug an die Pforten ihres Fühlens,

Erdrückend mit grauser Uebermacht

Die Stimmen der Freude, die Jubelrufe

Aus den Kehlen beglückter Wesen.

Ihr war, als müßte krachend

Zerbersten das eherne Himmelsgewölbe.

 

Ein Seufzer entrang sich ihren Lippen,

Nicht laut auftönend, aber so grundtief

Aus der zerrissnen Seele geholt,

Daß er durch all das Qualengeheul

Wie geschliffner Stahl hindurchschnitt

Und hinaus in die Weite des Weltalls drang.

 

Sie sank zu Boden, sie lag wie todt.

Langsam kehrte ihr göttliches Selbst

Zu sich zurück. Sie raffte sich auf.

Entschlossen stand sie und sprach die Worte:

»Wenig, wenig vermag das Mitleid

In der also bestellten Welt:

Aber dieß Wenige ist nicht Nichts.

Ich will es thun. Nicht feig will ich sein,

Will hören lernen die fürchterlichen

Chöre des Jammers, schauen lernen

In die klaffenden grausen Wunden,

Und nimmer wanken und nimmer weichen!«

Sie ergriff das entglittene Balsamgefäß,

Mit nervigem Schritte ging sie fürbaß

Mitten hinein in des Lebens Schlachtfeld.

 

O himmlischer Geist, verlaß uns nicht!

Weile, weile im Thal der Qualen,

Im Thale der Seufzer und des Stöhnens!

Deines Balsams göttlichen Heilsaft

Geuß in die Wunden! Lege die weiche,

Sanfte Hand an die kranken Herzen,

Auf des Leidenden eiskalt feuchte Stirne!

Der Blick des Dankes, der bleiche Strahl

Aus weinenden Augen sei dir Stärkung!

Dir werde zu Muth, als hättest du selbst dich

In unendlichem Weh gelabt und geheilt!

Auch sie vergiß'st du – ich weiß es – nicht,

Die mißhandelte, seufzende Kreatur,

Die mit Worten nicht danken kann!

Auch ihr dumpferes Auge vermag es,

Blicke des Dankes emporzurichten

Zu der helfenden Liebe mildem Antlitz.

Walte, walte im dunklen Leben!

Du waltest, o, du ermüdest nicht!

Durch schwüle, dampfende Todesschatten

Erblick ich deine reine Gestalt,

Schimmernd in bläulichem Lichte schwebt sie

Geschäftig dahin und neigt sich nieder,

Wo ein verwundetes Wesen schmachtet,

Und beugt sich über und flüstert leise

Worte des Trostes und lindert und heilt.



(* 1807-06-30, † 1887-09-14)



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