Thorwaldsens Ganymed und der Adler


Knabe, süßer, wunderbarer,

Unterm Kuß des Zeus gereift,

Blüte, die in leuchtend-klarer

Schönheit nie der Wind gestreift:

 

Sorgsam tränkst du und ästhetisch,

Wenn auch halb gelangeweilt,

Hier den Aar, der gravitätisch

Schmaust und wenig sich beeilt.

 

Mancher würde ungeduldig,

Und er hätte Grund genug,

Doch du denkst: Ich bin′s ihm schuldig,

Weil er zum Olymp mich trug;

 

Weil er schnell, mich fester fassend,

In die Wolken mich entrückt,

Als ich, schwindelnd und erblassend,

Unter mich hinabgeblickt;

 

Ja, weil er sogar die Klauen

Unterm Fittich-Paar verhüllt,

Die mich fast mit größerm Grauen,

Als der Abgrund selbst, erfüllt.

 

Solltest doch ins Ohr ihm raunen:

Spute dich zu deinem Heil;

Denn schon wölkte Zeus die Braunen,

Und - da fällt der Donnerkeil!

 

Auf, mein Vogel, dienstbeflissen!

Wie du auch das Auge rollst!

Du, o Knabe, wirst schon wissen,

Wo du dich erholen sollst!

 



(* 1813-03-18, † 1863-12-13)



Weitere gute Gedichte von Friedrich Hebbel zum Lesen.