Flut und Ebbe


In einem fernen, umbrandeten Land

Spielen die Mädchen ein Spiel an dem Strand

Schreiten im Reigen, heiter gesinnt,

Wann zu steigen die Flut beginnt

Weichen zurück in gemessner Flucht

Aus der schwellenden Meeresbucht.

In den Gewässern ruhigklar

Werden sie krause Gestalten gewahr,

Rollt eine Woge, sie sehen ein Ross,

Sehn einen Reiter, bis er zerfloss.

"Schauet den Meermann! Garstig Gesicht!

Grinsende Larve, du haschest mich nicht!"

Aber das Meer es wächst und naht -

"Fliehet, ihr Schwestern! Sonst wirds zu spät!"

Alle sie stürzen in hastigem Lauf,

Gleiten und reissen die Strauchelnden auf

Bis zu der Bank, wo die Ebbe beginnt

Wo, wie sie wissen, das Wasser zerrinnt.

Dort ist gelagert der flüchtige Chor,

Zieht an dem Felsen die Füsse empor

Fleht in den Himmel mit brünstigem Schein:

"Götter! ihr lasset die Unschuld allein?"

Aber die Flut, da den Raub sie berührt

Hat das Verhängnis des Ebbens gespürt,

Und, wie erschreckt durch das maidliche Ach

Gleitet sie nieder und fällt gemach! -

Gegen die Ziehnde mit drohendem Arm

Hebt sich verfolgend der blühende Schwarm:

"Höhnet die Feigen! Sie fliehn aus dem Krieg!

Kränzet die Locken und feiert den Sieg!"

 

Also vergnügt sich das sterbliche Heer

Mit dem gelassnen, dem ewigen Meer.



(* 1825-10-11, † 1898-11-28)



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