Ich wohnte unter vielen vielen Leuten...


Ich wohnte unter vielen vielen Leuten

Und sah sie alle tot und stille stehn,

Sie sprachen viel von hohen Lebensfreuden

Und liebten, sich im kleinsten Kreis zu drehn;

So war mein Kommen schon ein ewig Scheiden

Und jeden hab ich einmal nur gesehn,

Denn nimmer hielt mich′s, flüchtiges Geschicke

Trieb wild mich fort, sehnt ich mich gleich zurücke.

 

Und manchem habe ich die Hand gedrücket,

Der freundlich meinem Schritt entgegensah,

Hab in mir selbst die Kränze all gepflücket,

Denn keine Blume war, kein Frühling da,

Und hab im Flug die Unschuld mit geschmücket,

War sie verlassen meinem Wege nah;

Doch ewig ewig trieb mich′s schnell zu eilen,

Konnt niemals nicht des Werkes Freude teilen.

 

Rund um mich war die Landschaft wild und öde,

Kein Morgenrot, kein goldner Abendschein,

Kein kühler Wind durch dunkle Wipfel wehte,

Es grüßte mich kein Sänger in dem Hain;

Auch aus dem Tal schallt keines Hirten Flöte,

Die Welt schien mir in sich erstarrt zu sein.

Ich hörte in des Stromes wildem Brausen

Des eignen Fluges kühne Flügel sausen.

 

Nur in mir selbst die Tiefe zu ergründen,

Senkt ich ins Herz mit Allgewalt den Blick;

Doch nimmer konnt es eigne Ruhe finden,

Kehrt trübe in die Außenwelt zurück,

Es sah wie Traum das Leben unten schwinden,

Las in den Sternen ewiges Geschick,

Und rings um mich ganz kalte Stimmen sprachen:

»Das Herz, es will vor Wonne schier verzagen.«

 

Ich sah sie nicht die großen Süßigkeiten,

Vom Überfluß der Welt und ihrer Wahl

Mußt ich hinweg mit schnellem Fittich gleiten.

Hinabgedrückt von unerkannter Qual,

Konnt nimmer ich den wahren Punkt erbeuten

Und zählte stumm der Flügelschläge Zahl,

Von ewigen unfühlbar mächtgen Wogen

In weite weite Ferne hingezogen.

 



(* 1778-09-09, † 1842-07-28)



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