Sei mitleidsvoll


Sei mitleidsvoll, o Mensch! Zerdrücke

Dem Käfer nicht die goldne Brust

Und gönne selbst der kleinen Mücke

Den Sonnentanz, die kurze Lust.

 

Ein langes mütterliches Bilden

Hat rührend in der Larve Nacht

Gerieft an diesen Flügelschilden

Den Schmelz von grün metallner Pracht.

 

Er muß nach einem Sommer sterben

Wo du dich siebzig Jahre sonn′st;

O laß ihn laufen, fliegen, werben,

Er sei so prachtvoll nicht umsonst.

 

Ein Wasserwürmchen lag im Moore,

Vom Himmel träumend, fußlos, blind.

Da wächst ihm Fuß und Aug′; am Rohre

Ersteigt es Lüfte warm und lind.

 

Voll Sommergluth getrocknet springen

Die Gliederschaalen; blaue Höhn

Erstrebt′s auf zart gewobnen Schwingen

Und summt: Wie schön, wie wunderschön!

 

Nun ist′s in seinen Himmelreichen;

Sein höchstes Glück – ein Tag umspannt′s.

So gönn′ ihm nun mit seinesgleichen

Den Elfenchor im Abendglanz.

 

Sei mitleidvoll. Was wir erfuhren,

Das schläft im Stein, das webt im Baum,

Das zuckt in allen Kreaturen

Als Dämmerlicht, als Fragetraum.

 

Sei mitleidsvoll! Du bist gewesen

Was todesbang vor dir entrinnt.

Sei mitleidsvoll! Du wirst verwesen

Und wieder werden was sie sind.

 

Sei mitleidsvoll, o Mensch! Zerdrücke

Dem Käfer nicht die goldne Brust

Und gönne selbst der kleinen Mücke

Den Sonnentanz, die kurze Lust.



(* 1819-02-08, † 1904-06-25)



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