Raffael (1)


Es giebt Seelen, doch wen′ge, die, reiner als andre, vom Urquell

Sich, vom unendlichen Grund alles Lebend′gen, gelöst.

Jedes Räthsel der Welt es scheint in ihnen gefunden,

Jeglicher Widerstreit hold und entzückend versöhnt.

Nimmer trübt sich in ihnen die übernatürliche Klarheit,

Und doch sind sie wohl nie sich ihrer Allmacht bewußt.

 

Keines Zweifels erzitternder Hauch regt die liebliche Tiefe

Ihres Innern, es ruht stille der Himmel auf ihm.

Aehnlich sind sie dem Herrn, der die ungemessenen Kräfte

Seiner Natur oft im Bild blühender Rosen verhüllt.

Ja sie schaffen wie er! Nicht im Wirbel des Sturms, in des Frühlings

Sanft holdseliger Lust sproßt und erschließt sich der Keim,

Der sich zur Fülle der Frucht in frischer Gesundheit erschwellet.

Nur in der Zephire Wehn reift sie vollendet heran.

So ihr ruhiges Wirken. Wie all′ ihr Wesen nur Einheit,

Wie selbst die flüchtige Welt ihnen harmonisch erscheint,

So am geheimen Punkt, aus dem in vollkommenem Gleichmaaß

Sich der entwickelte Stoff rein und gesondert belebt,

So das erstehende Werk erfassen sie auch, und bescheiden

Zeigt es sich jeglichem Blick, aber es reizt nicht, es ist.

Nicht im üppig erquellenden Werden, im schmachtenden Welken,

Stellen sie′s eben wo′s ist, wo es entfaltet ist, dar.

Drum ist ihr Werk das Höchste: doch jene Schöpfung der Einheit

Nennet man schön, die Idee, die sie beseligend weckt,

Nennt man Schönheit, und so, o Raffael Sanzio, bist du

Der vollendetste mir, weil du der schönste mir bist.



(* 1804-11-21, † 1830-01-17)



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