Lieder der Untreue - Sechstes Lied


Dein gedenk′ ich, Nazarene,

Wenn das Schiff mich nach dem Eiland

Theokrits, auf griech′sche Erde,

Nach der Heimat des Ulysses,

Ueber′s weite Meer entführt.

 

Aber unsre Wünsche schwinden

Oft wie Rauch dahin; der Frühling

Er erfreut, und wir genießen

Wohl den Balsamduft der Blüten,

Doch die reifen Früchte nicht.

 

Glüht uns auch die volle Traube

Schon entgegen, lechzt der Gaumen

Nach dem Trunke, so entführet

Uns der Gott im Sinnenrausche

Den gebornen süßen Wein.

 

Nie mehr soll ich denn die Felsen,

Nimmermehr die Feigenhügel,

Luft′ge holde Schattenwege

Der Kastanienhaine, nimmer

Mein Olevano mehr sehn?

 

Nimmermehr der Serpentara

Rauhe wilde Wand besteigen,

Nimmermehr die schönen Berge

Tief im Lichtblau eines sanften

Mädchenauges lächeln sehn?

 

Weil sie meinem Leben drohen,

Und mich hassen, wie den Pluto,

Der dem blumenvollen Enna

Mit verwegner Kraft die schönste

Schäferin hinweggeraubt?

 

Sei′s denn, liebe Nazarene,

Ob wir auch uns wiedersehen,

Ob du mit dem Nonnenschleier

Auch vertauschest deine farb′ge

Feenhafte Zaubertracht,

 

Eine Schuld doch muß ich sühnen,

Eine andere begehend,

Einer meine Treue brechend,

Einer andern sie bewahrend,

Beiden meine Reue weihn.

 

Zwar die Schönste bleibst du immer

Deines reizenden Geschlechtes,

Zwar vollkommner malte Sanzio

Nie ein Weib, und nie Correggio

Einer Grazie Wunderbild.

 

Doch es gibt ein Herz voll Liebe,

Voll Geduld und Treu und Langmuth,

Wie′s in seiner geist′gen Schöne,

So lebendig, leidend, fühlend,

Ariosto nicht besang.

 

Alles schuld′ ich ihm, vor allen

Dieses Herz! Ich kann′s nicht theilen,

Und damit nicht seine Leiden

Ueber unsern Frevel kommen,

Sag′ ich dir mein Lebewohl!



(* 1804-11-21, † 1830-01-17)



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