Lieder der Nazarena - Drittes Lied


Ich.

 

Aber eines, Nazarena,

Könntest du mir nun gewähren:

Wir sind ganz allein; die Mutter

Draußen sitzt sie auf der Treppe;

Menschen sind Verräther, Tauben

Sind es aber nicht und Hühner,

Und so sollst du etwas denn,

Meine Taube, mir gewähren.

 

Sie.

 

Was auch wolltest du besond′res!

Alles darf die Mutter wissen;

Doch ich weiß nicht, was du möchtest,

Und was könnt′ ich dir wohl geben?

Nichts vermag ich, eingekerkert

Wie ich bin; was kann ein armes

Mädchen von Olevano

Deinem Wunsche dir gewähren?

 

Ich.

 

Orvietto′s Wein, Genzano′s

Goldne Traub′ ist süß und herrlich,

Aber meiner Lippe schmeckte

Süßer noch der Kuß der deinen;

Drum, mein Liebchen, neige hurtig

Mir vom Webestuhl herüber

Deines Mundes Lieblichkeit,

Eilig, eh die Mutter störet.

 

Sie.

 

Was verlangst du? Nein, ich könnte,

Könnt′ es nicht, und es ist Sünde,

Denn der Pred′ger hat′s verboten.

O Madonna, wie vermöcht′ ich′s

In der Beichte zu bekennen,

Und was sagte mir der Priester?

Welche Buße - nein, ich kann

So was Böses nicht begehen.

 

Ich.

 

Kind, ein Kuß ist keine Sünde,

In der Beichte nicht zu sagen,

Und du weißt es gut, dein schalkhaft

Lieblich Lächeln, es verräth dich.

Zaudre nicht, o Nazarena,

Sei nicht falsch, denn wohl bemerkt′ ich′s,

Wie du heut der Nachbarin

Blondgelocktes Bübchen küßtest.

 

Sie.

 

Ei, mein Freund, ein andres ist es,

Einen Mann, ein Kind zu küssen.

Endlich könntest du mir zürnen,

Daß ich meinen Heil′gen küsse!

Still, mein Freund, es ist verboten,

Und es sind auch eitle Possen,

Nazarena darf es nicht,

Ehe sie dein Weib geworden.

 

Ich.

 

Wohl denn, wenn du nur dem Heil′gen

Einen Kuß vergönnst, so will ich

Dir zu Lieb′ ein Heil′ger werden,

Wenn die Welt auch Grund genug hat,

Noch dafür mich nicht zu halten,

Will ich′s klar dir doch beweisen,

Denn ich will ein Wunder thun -

Ohne Kuß von dir zu gehen.



(* 1804-11-21, † 1830-01-17)



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