Erinnerung und Phantasie


Warum ergießt sich nur der Schwermut Schauer

aus deiner Schale mir, Erinnerung?

Warum bewölkt der Sehnsucht stille Trauer

der Seele Blick mit trüber Dämmerung?

 

Sie flattert ängstlich mit gelähmten Flügel

um Blüten der Vergangenheit, enteilt

auf ewig, wie bei seinem Grabeshügel

ein armer unversöhnter Schatten weilt.

 

Und wie nach Edens seligen Gefilden

zu späte Reu' mit nassem Blicke dringt,

schaut sie zurück nach luftigen Gebilden,

die keine Hoffnung je ihr wiederbringt.

 

Ist dies dein Glück, o du, im Mondenglanze,

Erinnerung? dies deine Seligkeit?

O, fleuch von mir mit deinem welken Kranze,

und überlaß mich der Vergangenheit.

 

Entführe du auf deinen muntern Schwingen,

o Phantasie, mich diesem finstern Harm!

Schon fühl' ich Kraft durch jeden Nerven dringen,

und fliehe leichter aus der Schwermut Arm.

 

Du, Göttliche, du schwelgst im Wesenkranze,

nicht ängstlich an die Gegenwart gebannt,

entzückt umher; dir strahlt im Sonnenglanze

die Unermeßlichkeit, dein Vaterland.

 

Der armen Notdurft kärglichem Gebiete

entschwingst du, Allumfassende, dich kühn,

und stürzest dich, berauscht vom Sphärenliede,

ins Flammenmeer der Ideale hin.

 

Dich fesselt nicht das ird'sche Maß der Zeiten,

des Raumes nicht; mit Himmlischen verwandt,

genießest du im Reich der Möglichkeiten

ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt.

 

Vergebens hüllt ein unauflösbar Siegel

den Sterblichen die ferne Zukunft ein;

zurückgestrahlt aus deinem Zauberspiegel,

geht sie hervor in schönem Dämmerschein.

 

Als Mitgenossin teilest du die Schätze,

die tief im Schoß der fernen Nachwelt blühn,

und lösest kühn der Endlichkeit Gesetze,

daß von Unsterblichkeit die Seelen glühn.

 

Beflügle mich! schon bricht aus schwarzer Hülle

der Hoffnung lichtes Morgenrot hervor.

Die Welt ist schön, und schön're Lebensfülle

schäumt mir aus deinem Zauberkelch empor.



(* 1770-03-27, † 1806-10-31)



Weitere gute Gedichte von Sophie Friederike Brentano zum Lesen.