Bergpsalm


Der Sturm hat seine Schlangen losgelassen.

In langen Windungen zischt Gras und Rohr

und keucht der See ans Land; die silberblassen

zerwühlten Weiden seufzen laut empor.

Empor, empor! Dort, wo die Kiefern sausen,

auf kahler Höhe will ich einsam stehn

und meine ferne Heimat dämmern sehn

und hören, was die dunkeln Wolken brausen.

 

Ihr grauen Pilger über mir: wohin?!

O könnt ich mit euch, ziellos, ohne Stocken,

dies dumpfe Sehnen ohne Maß und Sinn

ausschütten in den Sturm wie Nebelflocken!

O meine Heimat! Silbern grüßt der Fluß

und glänzt zum Himmel aus dem Blau der Bäume,

und aus dem Zauberwald der Kinderträume

winkt klar der Mutter Blick und Kuß.

 

Was weinst du, Sturm? - Hinab, Erinnerungen!

dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz!

Es grollt ein Aufschrei von Millionen Zungen

nach Glück und Frieden: Wurm, was will dein Schmerz!

Nicht sickert einsam mehr von Brust zu Brüsten

wie einst die Sehnsucht, nur als stiller Quell;

heut stöhnt ein Volk nach Klarheit, wild und gell,

und Du schwelgst noch in Wehmutslüsten?

 

Siehst du den Qualm mit dicken Fäusten dröhn

dort überm Wald der Schlote und der Essen?

Auf deine Reinheitsträume fällt der Hohn

der Arbeit! fühl′s: sie ringt, von Schmutz zerfressen!

Du hast mit deiner Sehnsucht bloß gebuhlt,

in trüber Glut dich selber nur genossen;

schütte die Kraft aus, die dir zugeflossen,

und du wirst frei vom Druck der Schuld!

 

Und blutig glüht es um die zackigen Türme,

ein Dornenkranz umflammt die Stirn der Stadt,

ein goldner Fächer scheucht die Wolkenstürme,

hernieder strahlt ein Sonnenpalmenblatt.

O Herz der Weltstadt, du Millionenstimme,

die gell nach Brot vor Seelenhunger schreit:

still quillt′s wie Heilandsblut durch diese Zeit,

die Liebe quillt aus deinem Grimme!

 

Den Kelch des Schweißes seh ich geistverklärt,

das Kreuz der Mühsal blütenlaubumflattert!

Was lachst du, Sturm?! - Im Rohr der Nebel gärt,

die Kiefer knarrt und ächzt, mein Mantel knattert:

Empor aus deinem Rausch! Mitleid, glüh ab!

Laß dir die Kraft nicht von Gefühlen beugen!

Hinab! laß deine Sehnsucht Taten zeugen!

Empor, Gehirn! Hinab, Herz! Auf! hinab!



(* 1863-11-18, † 1920-02-08)



Weitere gute Gedichte von Richard Dehmel zum Lesen.