Winterliche Stanzen


Nun sollen wir versagte Tage lange

ertragen in des Widerstandes Rinde;

uns immer wehrend, nimmer an der Wange

das Tiefe fühlend aufgetaner Winde.

Die Nacht ist stark, doch von so fernem Gange,

die schwache Lampe überredet linde.

Laß dichs getrösten: Frost und Harsch bereiten

die Spannung künftiger Empfänglichkeiten.

 

Hast du denn ganz die Rosen ausempfunden

vergangnen Sommers? Fühle, überlege:

das Ausgeruhte reiner Morgenstunden,

den leichten Gang in spinnverwebte Wege?

Stürz in dich nieder, rüttele, errege

die liebe Lust: sie ist in dich verschwunden.

Und wenn du eins gewahrst, das dir entgangen,

sei froh, es ganz von vorne anzufangen.

 

Vielleicht ein Glanz von Tauben, welche kreisten,

ein Vogelanklang, halb wie ein Verdacht,

ein Blumenblick (man übersieht die meisten),

ein duftendes Vermuten vor der Nacht.

Natur ist göttlich voll; wer kann sie leisten,

wenn ihn ein Gott nicht so natürlich macht.

Denn wer sie innen, wie sie drängt, empfände,

verhielte sich, erfüllt, in seine Hände.

 

Verhielte sich wie im Übermaß und Menge

und hoffte nicht noch Neues zu empfangen,

verhielte sich wie Übermaß und Menge

und meinte nicht, es sei ihm was entgangen,

verhielte sich wie Übermaß und Menge

mit maßlos übertroffenem Verlangen

und staunte nur noch, dass er dies ertrüge:

die schwankende, gewaltige Genüge.



(* 1875-12-04, † 1926-12-29)



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