Fragmente aus verlorenen Tagen


....Wie Vögel, welche sich gewöhnt ans Gehn

und immer schwerer werden, wie im Fallen:

die Erde saugt aus ihren langen Krallen

die mutige Erinnerung von allen

den großen Dingen, welche hoch geschehn,

und macht sie fast zu Blättern, die sich dicht

am Boden halten, –

wie Gewächse, die,

kaum aufwärts wachsend, in die Erde kriechen,

in schwarzen Schollen unlebendig licht

und weich und feucht versinken und versiechen, –

wie irre Kinder, – wie ein Angesicht

in einem Sarg, – wie frohe Hände, welche

unschlüssig werden, weil im vollen Kelche

sich Dinge spiegeln, die nicht nahe sind, –

wie Hülferufe, die im Abendwind

begegnen vielen dunklen großen Glocken, –

wie Zimmerblumen, die seit Tagen trocken,

wie Gassen, die verrufen sind, – wie Locken,

darinnen Edelsteine blind geworden sind, –

 

wie Morgen im April

vor allen vielen Fenstern des Spitales:

die Kranken drängen sich am Saum des Saales

und schaun: die Gnade eines frühen Strahles

macht alle Gassen frühlinglich und weit;

sie sehen nur die helle Herrlichkeit,

welche die Häuser jung und lachend macht,

und wissen nicht, daß schon die ganze Nacht

ein Sturm die Kleider von den Himmeln reißt,

ein Sturm von Wassern, wo die Welt noch eist,

ein Sturm, der jetzt noch durch die Gassen braust

und der den Dingen alle Bürde

von ihren Schultern nimmt, –

daß Etwas draußen groß ist und ergrimmt,

daß draußen die Gewalt geht, eine Faust,

die jeden von den Kranken würgen würde

inmitten dieses Glanzes, dem sie glauben. –

...... Wie lange Nächte in verwelkten Lauben,

die schon zerrissen sind auf allen Seiten

und viel zu weit, um noch mit einem Zweiten,

den man sehr liebt, zusammen drin zu weinen, –

wie nackte Mädchen, kommend über Steine,

wie Trunkene in einem Birkenhaine, –

wie Worte, welche nichts Bestimmtes meinen

und dennoch gehn, ins Ohr hineingehn, weiter

ins Hirn und heimlich auf der Nervenleiter

durch alle Glieder Sprung um Sprung versuchen, –

 

wie Greise, welche ihr Geschlecht verfluchen

und dann versterben, so daß keiner je

abwenden könnte das verhängte Weh,

wie volle Rosen, künstlich aufgezogen

im blauen Treibhaus, wo die Lüfte logen,

und dann vom Übermut in großem Bogen

hinausgestreut in den verwehten Schnee, –

wie eine Erde, die nicht kreisen kann,

weil zuviel Tote ihr Gefühl beschweren,

wie ein erschlagener verscharrter Mann,

dem sich die Hände gegen Wurzeln wehren, –

wie eine von den hohen, schlanken, roten

Hochsommerblumen, welche unerlöst

ganz plötzlich stirbt im Lieblingswind der Wiesen,

weil ihre Wurzel unten an Türkisen

im Ohrgehänge einer Toten

stößt....

 

Und mancher Tage Stunden waren so.

Als formte wer mein Abbild irgendwo,

um es mit Nadeln langsam zu mißhandeln.

Ich spürte jede Spitze seiner Spiele,

und war, als ob ein Regen auf mich fiele,

in welchem alle Dinge sich verwandeln.



(* 1875-12-04, † 1926-12-29)



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