Vision


(Das Mädchen spricht:)

 

Die Glut im Ofen

Zerfällt mit Knistern -

Ich bin bei den Eltern,

Unter Geschwistern;

An jedem Abend

In engem Zimmer

Sind wie versammelt

Beim Lampenschimmer.

Sie alle grollend

Und finster schweigend -

Ich in Gedanken

Zu dir mich neigend.

 

Du bist geächtet

In diesen Räumen -

Du steter Gast mir

In stummen Träumen.

Ich bin gefangen

In dumpfer Klause;

Ich bin verlassen

Im Elternhause!

Und oft doch will mir′s

Die Brust zersprengen,

Ans Herz der Eltern

Mich hinzudrängen -

Ich bin verlassen

Unter den Meinen;

Ich bin gefangen

Und darf nicht weinen.

 

Da - welch ein Klingen

Durchflog den Raum?

Es fiel wie Amen

In meinen Traum!

Ein helles Jauchzen

Und leises Klagen,

Ein wehmutbanges

Und süßes Fragen!

Von ferne hört′ ich′s

Herüberwehen,

Wo durch das Dunkel die winde gehen.

Kaum, dass ich vernommen

den Hauch der Töne -

Da standst du vor mir

In aller Schöne,

Mit hellen Augen,

Mit blühenden Wangen,

Als könnt′ ich mit Armen

Dich liebend umfangen…

 

Du wolltest mich grüßen

Aus dunkler Weite

Und gabst dem Verlangen

Ein Lied zum Geleite.

Es hat mich gefunden,

Da ich getrauert,

Es hat mir selig

Das Herz durchschauert!

Du hast mich wieder

Mich Licht umgeben;

In meinem Kerker

Blüht neues Leben!



(* 1862-10-07, † 1926-03-05)



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