Abendrot


Sach. 14, 7.

Und um den Abend wird es lichte sein.

 

Schau hin, im Westen wird es helle,

Und um den Abend wird es licht,

Wo noch des Spätrots Feuerwelle

Den düstern Wolkendamm durchbricht;

Die Sonne grüßet mild im Reigen,

Als wäre sie des Zornes müd,

Ein Vögelein aus nassen Zweigen

Singt noch sein selig Abendlied.

 

Welch sanfte Glut ist ausgegossen

Auf Stadt und Flur, auf Tal und Höhn;

Die Welt, von Rosenglanz umflossen,

Sie strahlt nach Regen doppeltschön,

Und tröstlich mit Posaunentönen

Erklingt vom Turme der Choral,

In Harmonien zu versöhnen

Des Tages Lärm, der Erde Qual.

 

O trüber Tag, im Sturm gekommen,

Der mir kein Sonnenblickchen bot,

Und endlich Abschied noch genommen

Mit einem süßen Abendrot,

Du zeigst mir meines Gottes Walten,

Der, ob sein Antlitz sich verhüllt,

Doch nicht auf ewig Zorn zu halten,

Nicht stets zu strafen ist gewillt.

 

Wie oft, wenn mir ein grauer Morgen

Voll Wolken ob dem Haupte hing,

Dass ich beklemmt von bangen Sorgen

Dem trüben Tag entgegenging,

Wie oft zerrannen alle Nöte,

Eh noch herniedersank die Nacht,

Dann jauchzt‘ ich in die Abendröte:

Der Herr hat Alles wohlgemacht!

 

Wie ging ich oft auf rauhem Pfade

Mit düsterem, gebundnem Sinn,

Ohn einen Sonnenblick der Gnade

Durch meines Tages Arbeit hin;

Doch noch in stillen Abendstunden

Hat sich zu seligem Genuss

Mein Heiland bei mir eingefunden

Wie weiland dort im Emmaus!

 

Schau hin – im Westen wird es helle

Und um den Abend wird es licht! –

So neig‘ an meines Grabes Schwelle

Mir einst, o Sonne, dein Gesicht;

Wann durchgekämpft des Lebens Mühen,

Wann durchgeseufzt der Erde Not,

Gott meiner Tage, lass erblühen

Mir noch ein selig Abendrot!

 

Im milden Spätrot deiner Gnade

Verkläre mir zum letztenmal

All meiner Erdenwallfahrt Pfade

Zurück bis in der Kindheit Tal,

Dass, wenn mein Tag sich nun geneiget,

Und niedersinkt die letzte Nacht,

Lobpreisend es mein Geist bezeuget:

Der Herr hat Alles wohlgemacht!

 

Und wie die Wolken dort verschwinden

In roter, warmer Abendglut,

So tilge meiner Jugend Sünden

In deines Sohnes Versöhnungsblut,

Dass losgesprochen und begnadet

Mein Geist sich leicht von hinnen hebt,

Und froh, in goldnem Licht gebadet,

Der Sternenwelt entgegenschwebt.



(* 1815-01-30, † 1890-01-14)



Weitere gute Gedichte von Karl von Gerok zum Lesen.