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Das Unglück lieben


Das Unglück lieben - o das heißt,

Durch Dorngestrüppe, das uns blutig,

Das uns das Kleid vom Leibe reißt,

Im Dunkel gehn, am Abgrund mutig;

Es heißt nicht gehn im Sonnenschein,

Jedoch auch leiden nicht allein.

 

Das Unglück lieben heißt, zugleich

Verachtung, Spott und ohne Klagen,

Gefaßt auf jeden Wetterstreich,

Der Erde Doppellast ertragen,

Dem süßen vorziehn bittern Trank

Und ernten, ach, nur kargen Dank.

 

Das Unglück lieben heißt, ein Kind

Mit heim von öder Straße nehmen,

Beschützen vor dem rauhen Wind,

Heißt, harten Sinn und Stolz beschämen,

Selbst nicht vor Trotz und Widerstand

Zurückziehn seine Retterhand.

 

Das Unglück lieben heißt, nicht Flaum

Und weiche Polsterdecken lieben,

Doch die, die umgehn wie im Traum,

Die Ärmsten, die zurückgeblieben,

Errettend wiederum hervor

Geleiten, zu dem Glück empor.

 

Das Unglück lieben heißt, die Not

Des Erdendaseins ganz empfinden,

Die Ohnmacht vor dem Machtgebot,

Dem kein Geschöpf sich kann entwinden,

Heißt streifen an des Engels Flug,

Der auf die Welt das Mitleid trug.



(* 22.01.1820, † 18.06.1905)




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Kommentare

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  • Gravatar von Dr. Rupert Rottenegger
    Dr. Rupert Rottenegger | praxis@zahnarzt-rottenegger.de
    vor 7 Monaten

    Als Urenkel des Verfassers liebe ich besonders die letzte Strophe.
    Tiefenpsychologisch ist sie ebenso interessant!
    Die Breite des lyrischen Werks zeigt sich im immer noch erfrischenden "Krokodil"-Gedicht, das an Morgenstern und Ringelnatz erinnert und das beide vielleicht kannten.