Einem Kinde der Sünde


Ob′s deine Augen auch verneinen

Mit ihrem hellen, klaren Licht,

Ob auch auf deinem zarten, feinen,

Madonnenschönen Angesicht

Es liegt, als wäre deine Seele

Ein seltner Kelch, der niemals trog,

Drin Keuschheit sich und Kraft vermähle:

Ein Kind der Sünde bist du doch!

 

Ob deine Augen drohend blitzen –

Ob du auch zitternd, zornbewehrt,

Dich vor dem Frechen suchst zu schützen,

Den deiner Schönheit Reiz bethört, –

Der deines Nackens holde Fülle

Umspannen will mit engem Joch –

Ein Bild der lieblichsten Idylle! –

Ein Kind der Sünde bist du doch! . .

 

Ob du auch sittsam deine frommen

Blauaugen niederschlägst, wenn jach,

Wie′s just passirt, ein Wort gekommen –

Ein Wort von bravem, derbem Schlag –

Es fährt heraus – die Andern kichern:

»Ein Witz, der nicht zum Feinsten roch!«

Ob du auch kalt sie′s läßt versichern –

Ein Kind der Sünde bist du doch! . .

 

Denn ich, Madonna, muß es wissen –

Du hast es selbst mir ungesäumt

Gebeichtet, da auf weichen Kissen

Ich manche Nacht bei dir verträumt . . .

Dein schöner Leib ist so gesellig

Und Kosen dünkt ihn wunderfein –

Drum bist du heimlich gern gefällig:

Du sollst ein»Kind der Sünde« sein?



(* 1862-07-12, † 1890-03-08)



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