Liebeslied


Noch währt der Schmaus! Noch fließt der Wein!

Doch auf, vom Becher weg!

Das liebste Mädchen küßt mich heut

Im Europäerland.

 

Schon rauscht ihr leicht gehobner Fuß

Und kündigt sie mir an.

Heil, Phyllis, dir und deiner Brust

Und ihrem vollen Wuchs!

 

Ihr Antlitz glüht vor süßer Lust

Und herrscht mich zu sich hin!

Schon ist ihr sanftgeschwollner Mund

Von meinem Kusse heiß.

 

Sprich lächelnd Weisheit um dich her,

Mund, heiß von meinem Kuß,

Daß aller Welt Glückseligkeit

Gar nichts dagegen sei!

 

Die ihr nicht eben nüchtern sitzt

Beim bechervollen Tisch,

Flieht, flieht den Becher! Phyllis küßt

Den Durst nach Weine weg.

 

Willkommen, Herz, für mich gemacht!

Wenn seelenvoll ihr Blick

Von Wollust glüht, dann sink ich sanft

An ihre volle Brust.

 

Wenn nun mein trunknes Auge schwimmt,

Entzückung ohne Maß

Weit um mich her, dann bebt mein Herz

Zu ihrem Herzen hin.

 

Dann treten wir viel seliger

Als Könige daher

Und fühlen, daß dies Wahrheit sei.

Das geht durch Mark und Bein.

 

Und preist mit frohem Ungestüm

Der Bräut′gam und die Braut;

Er schaut auf uns nacheifernd hin

Und küßt sie feuriger,

 

Und drückt sie wilder an sein Herz

Und lispelt ihr ins Ohr:

"Sind wir den Göttern auch nicht gleich,

So lieben wir doch auch!"

 

Uns preist, voll Freuden einer Braut,

Die Mutter ihrem Sohn!

Sie drückt ihn an ihr Herz und spricht:

"Sei, wie dein Vater war!"

 

Nur uns gehört die Ewigkeit,

Wenn wir gestorben sind,

Damit der Enkelinnen Sohn

Versteh, was Liebe sei.



(* 1724-07-02, † 1803-03-14)



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