Mein Nachbar


An jedem Abend, wenn die späte Stunde

Die müden Glieder in den Schlummer lockt,

Und ich im Vorgefühl der süßen Ruhe

Das Buch gesättigt aus den Händen lege,

Fängt über mir ein störendes Concert an.

Es gleiten Finger über das Piano

Und sonder Zweifel ungeschickte Finger.

Bald hör ich eine Scala, wie ein Schüler

Beim Unterrichte sie nicht schlechter spielt,

Bald eine Melodie aus irgend einer

Uralten Oper oder Operette –

Das alles unterbrochen oft durch Pausen,

Die nicht im Notenblatte stehen mögen,

Durch falsche Griffe, die in wilder Hast

Sofort noch einmal falsch gegriffen werden:

Kurz, ich bin selbst nicht sonderlich empfindlich

In Rücksicht auf das Musikalische,

Doch denkt die Zeit, die Ruhebedürftigkeit

Und nehm′t dazu den seltsamen Genuß,

Und dann vergebt mir nicht, wenn ich am Ende

Voll Aerger nach dem Concertirer forsche,

Die unbequemen Klänge abzuthun.

 

Und was vernahm ich? Ein bejahrter Mann,

Ein dürftiger, ist mein Pianospieler,

Den ganzen Tag geht er dem Handwerk nach,

Und Abends, wenn die Kinder eingeschlafen,

Für die er all′ die schweren Sorgen trägt,

Uebt er Piano.

Lacht mich aus darum.

Mir traten ein paar Thränen in die Augen;

Mitfühlend las ich in des Mannes Herz.

Er kann nicht spielen und er wird′s nicht können,

Zu steif ist seine Hand, sein Ohr zu stumpf,

Ihr kennt das Sprüchlein wohl von Haus und Häuschen,

Und dennoch läßt er′s nicht. Ihm ist dies Spiel

Die einzige Sprosse, die aus Noth und Kummer

Des öden Lebens ihn nach oben leitet,

Die einzige. Und die barmherzige Kunst,

Sie aller Segenspender edelste,

Stößt ihn auch ohne Trost nicht aus dem Tempel,

Der gläubig drin der Seele Heilung sucht.

Aus falschen Griffen, aus verfehlten Takten

Gießt sie dem Lechzenden Befriedigung

In die geängstigte, gequälte Brust ...

 

Spiel immer zu, du armer, alter Mann!

Du störst nicht, nein. Melodisch klingt um mich

Die edle Weihe eines Menschenherzens.



(* 1857-02-13, † 1938-02-02)



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