Ins Unendliche strebt


Ins Unendliche strebt sich die Bildung der Zeit zu erweitern,

Aber dem breiteren Strom droht die Verflachung bereits.

 

Fülle die Jugend mit würdigem Stoff und in froher Begeistrung

Lehre sie glühn! Die Kritik kommt mit den Jahren von selbst.

 

Immer behalte getreu vor Augen das Höchste, doch heute

Strebe nach dem, was heut du zu erreichen vermagst.

 

Nicht wer Staatstheorien doziert, ein Politiker ist nur,

Wer im gegebenen Fall richtig das Mögliche schafft.

 

Stets zu Schwärmen gesellt sich das Volk der geschwätzigen Stare,

Einsam sucht sich der Aar über den Wolken die Bahn.

 

Bester, du hast ein Gewissen für das, was sittlich und wahr ist,

Warum fehlt es dir, ach, nur für das Schöne so ganz?

 

Nicht bloß, wer im Gemüt abstreifte den Zügel der Sitte,

Wer sich des Häßlichen nicht schämt, er ist auch ein Barbar.

 

Eile mit Weile! Den Kahn erst lerne zu steuern im Hafen,

Eh′ zur Entdeckungsfahrt mächtige Segel du spannst.

 

Stolz und schweigend enthüllt sein Werk uns der Meister; im eitlen

Selbstlob birgt ein Gefühl heimlicher Schwäche sich nur.

 

Tiefer erscheint trübströmende Flut, durchsichtige flacher,

Aber das Senkblei lehrt oft, daß dich beides getäuscht.

 

Ist denn die Blume nur da zum Zergliedern? Weh dem Geschlechte,

Das, anstatt sich zu freun, jegliche Freude zerdenkt!

 

Torheit bleibt′s, im Gesang um den Preis der Geschichte zu ringen,

Doch der poetische Stoff kann ein historischer sein.

 

Freilich für ein Gedicht ist Schönheit immer das Höchste,

Nur nicht jeglicher Zeit Höchstes ein schönes Gedicht.

 

Ward dir Großes versagt, so übe die Kunst an bescheidnen

Stoffen und strebe mit Ernst, Meister im Kleinen zu sein.

 

In dem kastalischen Born, dem begeisternden, sprudelt ein Tropfen

Lethe; jeglichen Schmerz dämpft er, so lange du singst.



(* 1815-10-17, † 1884-04-06)



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