Das Negerweib


Wo am großen Strom die Sicheln durch das hohe Rohrfeld flirren,

Und im Laub des Zuckerahorns farb′ge Papageyen schwirren,

Sitzt das Negerweib, den Nacken bunt geziert mit Glaskorallen,

Und dem Knäblein auf dem Schooße läßt ein Schlummerlied sie schallen:

 

Schlaf, o schlaf mein schwarzer Knabe, du zum Jammer mir geboren,

Eh′ zu leben du beginnest, ist dein Leben schon verloren.

Schlaf, o schlaf, verhüllt in Dunkel ruhn dir noch der Zukunft Schrecken;

Nur zu früh aus deinen Träumen wird der Grimm des Herrn dich wecken.

 

Was die Menschen Freude heißen, wirst du nimmermehr empfinden,

Dort nur fühlt sich′s, wo des Nigers Wellen durch die Flur sich winden.

Nie den Tiger wirst du fällen mit dem Wurf der scharfen Lanzen,

Nie den Reigen deiner Väter zu dem Schlag der Pauke tanzen.

 

Nein, dein Tag wird sein von Thränen, deine Nacht wird sein voll Klagen.

Wie das Thier des Feldes wirst du stumm das Joch der Weißen tragen,

Wirst das Holz den Weißen fällen und das Rohr den Weißen schneiden,

Die von unserm Marke prassen und in unserm Schweiß sich kleiden.

 

Kluge Männer sind die Weißen; sie durchfahren kühn die Meere,

Blitzesglut und Schall des Donners schläft in ihrem Jagdgewehre;

Ihre Mühlen, dampfgetrieben, regen sich mit tausend Armen,

Aber ach, bei ihrer Klugheit wohnt in Herzen kein Erbarmen.

 

Oftmals hört′ ich auch die Stolzen sich mit ihrer Freiheit brüsten,

Wie sie kühn vom Mutterlande losgerissen diese Küsten,

Aber über jenen Edeln, der mit Muth das Wort gesprochen,

Daß die Schwarzen Menschen wären, haben sie den Stab gebrochen.

 

Süß erklinget ihre Predigt, wie ein Gott für sie gestorben,

Und durch solches Liebesopfer aller Welt das Heil erworben;

Doch wie soll das Wort ich glauben, wohnt es nicht in ihren Seelen?

Ist denn das der Sinn der Liebe, daß sie uns zu Tode quälen?

 

O du großer Geist, was thaten meines armen Stamms Genossen,

Daß du über uns die Schalen deines Zornes ausgegossen!

Sprich, wann wirst du mild dein Auge aus den Wolken zu uns wenden?

Sprich, o sprich, wann wird der Jammer deiner schwarzen Kinder enden?

 

Ach, das mag geschehen, wenn der Missisippi rückwärts fließet,

Wenn an hoher Baumwollstaube dunkelblau die Blüte sprießet,

Wenn der Alligator friedlich schlummert bei den Büffelheerden,

Wenn die weißen freien Pflanzer, wenn die Christen Menschen werden.



(* 1815-10-17, † 1884-04-06)



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Kommentare


  • Imhof
    Dieses wunderschön traurige Gedicht wurde uns als Kinder vor 70 Jahren schon von unserer Großmutter frei vorgetragen.

  • Stephan Weidauer
    Anrührend, lesenswert und nachdenklich stimmend. Schon damals eine eindeutig antikolonialistische Stimme, wobei man wieder sieht, daß das Wort "Neger" keinerlei rassistischen Beiklang hatte.