Abendgebet und Traum


Wir haben viel gelitten

Den Tag hindurch, o Gott!

Man mahnte uns an Schulden,

Und, ach! uns fehlte Brot.

Leid schwäche die Ergüsse

Des Dankgefühles nicht,

Leid ist des Lebens Schatten,

Erhöht der Freude Licht.

Gern will ich es ertragen,

Es sei auch noch so schwer:

Wär′ Leiden mir nicht nöthig,

Du schicktest mir′s nicht, Herr!

Und jetzt, von dir gesendet,

Kommt Schlaf, und stillt den Schmerz:

Der Tag sei noch so stürmisch,

Schlaf lullt in Ruh′ das Herz.

- - - - - - - - - - - - - -

Komm, komm, durchgehn die Gegend

Wir beide Hand in Hand!

Vor allem nahn wir jener

Anmuth′gen Felsenwand.

Sie selbst ist ein Gemische

Von Marmor aller Art,

Das zu verschönern Blüthen

Und Früchte sich gepaart.

Hier reift die Fülle Beeren

Im warmen Sonnenschein,

Pflück′ diese blaue Traube,

Sie selbst lädt ja dich ein.

Nach Herzenslust genieße

Von dieser Bäume Frucht,

Sie beugen sich ja unter

Der Früchtenmenge Wucht,

Und nun Begier nach Speise

Nach Wunsche du gestillt,

Lab′ auch das Aug′ und schaue

Dies Paradiesgefild!

Sieh! wie sich stufenweise

Die Felsenwand erhebt,

Wie Berge hinter Bergen

Die klarste Luft umschwebt!

In zartes Grün gekleidet

Sehn die uns nächsten wir,

Die ferneren und höhern

Erscheinen wie Saphir.

Hoch hinter ihnen thürmen

Noch höhre sich empor;

Und scheinen eine Treppe,

Die führt zum Himmelsthor.

Sie sind in Schnee verhüllet,

Auf dem der Sonne Licht

Sich in den holdsten Farben

Des Regenbogens bricht.

Und nun wir alle Höhen

Erblickt in ihrer Pracht,

Laß uns hinunterschweben

Zu jener Grotte Nacht!

Befürchte nichts, vertraue

Auf meiner Schwingen Kraft!

Du wirst dort sehn, wie Allmacht

Mit Mutterliebe schafft.

Hier riß ein Erdebeben

Den harten Fels entzwei,

Und formte diese Grotte,

Nichts kommt an Pracht ihr bei.

Sieh all′ die Wasserfälle,

Die, Goldtapeten gleich,

Der hohen Deck′ entschwebend,

Sich sammeln hier zum Teich.

Bewundere die Fülle

Von Früchten aller Art,

Die stets sich hier erneuern

So wunderschön und zart,

Wie wir umsonst sie suchten

An jedem andern Ort:

So sprossen Edens Früchte

Auf Gottes Schöpfungswort.

Nimm jene Prachtgranate,

Flicht einen Blumenstrauß.

Und bring′ von deiner Reise

Der Mutter sie nach Haus!



(* 1808-07-05, † 1825-11-19)



Weitere gute Gedichte von Elisabeth Kulmann zum Lesen.