Golgatha


Seele hast du keine Flügel?

So fliege doch nach Golgatha

Wo auf einem Todeshügel

Den Sohn der Vater leiden sah.

 

Die Erde zittert,

Schaut und erschüttert

 

Den Tod, den großen Tod!

Der dem Mittler Gottes droht.

 

Geister stehen auf den Höhen,

Wie Todte bleich, wie Gräber stumm!

Und die wen′gen Edlen stehen

Ohnmächtig um den Pfahl herum;

 

Sie sehn und schauen

Den Tod voll Grauen;

 

Den Tod, den großen Tod!

Der dem besten Freunde droht.

 

Nacht und Dunkel hängt herunter,

Moria, wo ist deine Pracht?

Wo ist deines Tempels Wunder?

Deckt alles Tod und Mitternacht?

 

Die Berge zittern,

Die Felsen splittern;

 

O Tod, O großer Tod!

Der dem Sündentilger droht.

 

Aus der fürchterlichsten Wolke

Erhebt die Todesstimme sich

Vor dem zitterenden Volke:

»Mein Gott! warum verläßst du mich?«

 

Vom Höllengrimme

Zeugt diese Stimme;

 

O Tod! - o welch ein Tod!

Der dem größten Menschen droht.

 

Blutigrothe Strahlen zücken

Von eines Todesengels Schwert,

Geister hören, staunen, blicken!

Als sie das letzte Wort gehört:

 

»Nun ich empfehle

Dir meine Seele!

 

O Gott, es ist vollbracht!«

Und sein Haupt sinkt in die Nacht.

 

Tief an deinem Kreuze unten,

Gottmensch! Erlöser! lieg′ ich hier.

Ich blick′ hinauf nach deinen Wunden,

Sie strömen Seligkeit auch mir.

Will Tod mich tödten,

So soll es reden

Dein Blut,Gottmensch, dein Blut!

Und ich trotze seiner Wuth.

 

O wie freudig kann ich sterben!

Ich fürchte nicht der Hölle Gluth;

Meine Kleider will ich färben

In des erwürgten Lammes Blut.

 

Auch ich empfehle

Dir meine Seele,

 

O Gott! wenn einst der Tod

Mir, wie meinem Mittler droht.



(* 1739-03-24, † 1791-10-10)



Weitere gute Gedichte von Christian Friedrich Daniel Schubart zum Lesen.