Die Sage


Es ruht im Waldesdunkel

Ein wunderbares Weib,

Von wallenden Gewändern

Umhüllt den schönen Leib.

Der Blätter Schatten zittern

Herab auf die Gestalt,

Und süßer Duft und Nebel

In ihrer Nähe wallt.

Es geht ein seltsam Rauschen

Umher von Baum zu Baum -

Das schöne Weib, es regt sich

Und flüstert wie im Traum.

Das ist die holde Sage,

Die zaub′risch ewig jung,

Sie ruht hier eingeschlafen

In grüner Dämmerung.

Habt Acht! sie wird erwachen,

Mit ihr die alte Zeit,

Schon machen sich die Elfen

Zum luft′gen Tanz bereit.

Schon schwingt der wilde Jäger

Den mächt′gen, scharfen Speer,

Es kommt der treue Eckart

Und wandelt vor ihm her.

Truthina die Vielschöne,

Auf weißem Hirsche naht,

Frau Venus harrt im Berge

Mit ihrem ganzen Staat.

Schon tönt in Wassers Rauschen

Undinen′s leiser Sang,

Welleda′s weißer Vogel

Fliegt schon das Thal entlang.

Es schüttelt graue Locken

Der alte Rübezahl,

Und Salamander weben

In jeder Flamme Strahl.

Aus dunkelm Schacht der Erbe

Drängt Gnomenvolk herauf;

Du alte, holde Sage,

Und wachst du noch nicht auf?

Wie unter dunkeln Wimpern

Das Auge schon sich regt,

Wie zu dem ersten Worte

Die Lippe sich bewegt. -

Umsonst! sie hat im Traume

Nur leicht das Haupt gewandt. -

Das schöne Weib, es schlummert,

Als wär′ es festgebannt.

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Es rauschen laut die Bäume -

Die Sage ist erwacht,

Sie tritt hervor, holdselig

Aus duft′ger Waldesnacht.

Sie senkt die langen Wimpern,

Sie ist geblendet ganz

Von all′ der Lebensfülle

Im lichten Sonnenglanz.

Es ragt in blaue Lüfte

Ein mächt′ges Schloß empor,

Dahin nun geht die Sage

Und klopfet an das Thor.

Der Pförtner will nicht öffnen,

Bevor sie sich genannt -

Sie hebt das Haupt unwillig,

Daß sie nicht gleich erkannt.

»Ich bin die alte Sage,

Willkommen überall,

Ich bring′ aus alten Zeiten

Gar schönen Wiederhall.«

»Du sprichst von alten Zeiten,

Wir blicken nicht zurück,

Wir suchen nur für Heute

Genuß und neues Glück,«

Die arme Sage wendet

Sich weiter, still und matt -

Sie geht bis an die Thore

Von einer großen Stadt.

Am Thore läßt die Wache

Die Bittende nicht ein,

Sie hat ja kein Gewerbe,

Nicht Paß noch Wanderschein.

»Ich bin die alte Sage,«

Spricht sie zum zweiten Mal,

»Mit meinen süßen Wundern

Beleb′ ich Berg und Thal.«

Da lachen sie der Armen

Gar höhnisch in′s Gesicht,

»Für uns bist du verschollen,

Bedürfen deiner nicht.

In den belebten Straßen

Verhallt dein leises Wort,

Wir wollen nur erwerben,

Wir streben rüstig fort.

Wir wollen freie Presse,

Uns fehlt Constitution!«

Die Kinder selber wenden

Den Blick hochmüthig schon.

Die arme schöne Sage,

Die keiner kennen will,

Sie wandert fort, beklommen

Und weinet nur ganz still.

Sie lenket von dem breiten,

Gebahnten Wege fort,

Sie hofft noch auf Willkommen

Am ländlich stillen Ort.

Im Felde sind die Schnitter

Vereint in voller Zahl;

»Ich bin die alte Sage,«

Spricht sie zum dritten Mal.

»Was kümmert uns die Sage!

Zwar wär′s den Großen recht,

Wenn wir so gläubig wären,

Wir niederes Geschlecht.

Doch wir sind vorgeschritten

Aus der Unwissenheit,

Uns läßt des Tages Arbeit

Zu Mährchen keine Zeit.«

Verschüchtert hüllt die Sage

Sich in den Schleier ein,

Und geht mit bangem Zögern

Nun in das Dorf hinein.

Da sitzt vor nied′rer Thüre

Ein Mütterchen und spinnt,

Sie sieht die Sage kommen,

Und hebt das Haupt geschwind.

Ihr glüht das matte Auge

Im Abendsonnenstrahl -

»Du liebe, schöne Sage,

Ich grüß′ dich tausendmal.

Wie hab′ ich in der Jugend

So innig dir vertraut,

Wie lauscht′ ich da so eifrig

Der leisen Stimme Laut.

Mir ist, da ich dich sehe,

Als würd′ ich wieder jung,

Als nahtest du mir wieder

In trauter Dämmerung;

Als hätt′ ich nicht durchwandert

So lange Lebensbahn,

Als wären deine Wunder

Mir wieder aufgethan.

Noch weiß ich deine Lieder,

Die holden Mährchen all′,

Doch ach, es höret Keiner

Auf meiner Stimme Schall.

Wovon so gern ich spräche,

Es soll auf ewig ruhn,

Und was ich jung geliebet,

Verhöhnen soll ich′s nun.

Du hast mich stets erfreuet

Wie nimmer sonst geschehn,

Und darfst du hier nicht weilen,

So laß mich mit dir gehn.

Da reicht die holde Sage

Dem Mütterchen die Hand,

Und führt die Lustverjüngte

Hinein in′s Wunderland.

Des alten Berges Pforten

Sie fallen zu gar schwer,

Und keine blaue Blume

Erschließt sie jemals mehr.



(* 1815-11-26, † 1892-07-18)



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