Die Muse vor Gericht


Komm, Muse meines Liedes, komm ins wilde

Steinklippenthal der Urwaldsnacht mit mir!

Vor jener Eichen alter Richtergilde

Dort spräch’ ich gern ein ernstes Wort mit dir.

 

Nicht gnügt’s, daß dir der Markt, der leichtentzückte,

Des Lobs Almosen zuwarf manchesmal,

Manch allzumilder Freund die Hand dir drückte,

Und Beifallswort sich seinem Mund entstahl!

 

Kein Mensch beschritt den Waldpfad, den wir wählen;

Horch, von den Zweigen träuft der Vögel Sang

Wie Frühthau auf die Blumen unsrer Seelen!

Ach, er verstummt bei unsrer Schritte Klang!

 

Sie sangen nicht, um unsrem Ohr zu dienen,

Und Lerchenweisen lallt der Finke nie:

Mein besser Seelentheil wohl sang aus ihnen!

Sprich, Muse meines Lieds, thatst du wie sie? –

 

Ein Blüthenbaum verlor sich dort zu Eichen,

Die blüthenlos, wenn sonst auch schön und grün;

Doch er kann anders nicht, als Blüthen reichen,

Nur Axt und Blitz gefährden einst sein Blühn!

 

Froh wiegt er sein Gezweig im Sonnenlichte!

Dem Blitze schlägt sein blumiges Gesträuch,

Die blüh’nde Waffe, er ins Angesichte!

Sprich, Muse meines Lieds, thust du’s ihm gleich? –

 

Am Grunde modert eine alte Eiche,

Manch hundert Lenze füllten einst ihr Mark;

Gleichgültig stehn die Brüder um die Leiche,

Sind alle ja noch laubig, grün und stark!

 

Der Vogel, der des Baumes Lenzgefühle

Von seinem Blatte las und statt ihm sang,

Der liederreiche, düngt in Gartenkühle

Jetzt Blumen fern zu Duft und Blüthendrang.

 

In dunkler Nacht, wenn Stern’ und Mond nicht glänzen,

Umquillt phosphorisch Licht den morschen Baum:

Traun, ihn umwallt von seinen todten Lenzen

Ein leuchtender und schöner Grabestraum!

 

Und wird auch mir, wenn einst im Waldesdüstern

Fern und vergessen sich mein Hügel hebt,

Ein lichter Traum von dir es tröstend flüstern,

Daß kein verlornes Leben ich gelebt?

 

Sprich, wird einst meines Jugendliedes Rose

Dem greisen Haupt nur Flitter, deß sich’s schämt,

Nicht eine Zierde, gleich dem Kranz von Moose,

Der jenes kahle Felshaupt schön verbrämt? –

 

Der Wildbach schlägt sich tapfer hier durch Klippen,

Ein Röslein wiegt auf seinen Wellen sich!

Das wuchs nicht hier auf diesen Felsenrippen,

Und mahnt an schön’res Land, das er durchstrich!

 

Das Bächlein bangt nicht, daß die Klippe zürne,

Wenn es der nackten zeigt, was ihr gebricht,

Und über ihrer finstern Felsenstirne

Die klaren Sterne spiegeln rein und licht!

 

Hast du auch frei und ohne Furcht und Lüge

Stets, Muse meines Lieds, geoffenbart

Die Ahnungsrosen deiner Seelenzüge,

Die Glaubenssterne deiner Geisterfahrt?

 

Blick’ in die strengen Felsenangesichter,

Sie sprechen dir dein Urtheil unerweicht!

Lies es im grünen Blatt, das dir dein Richter,

Der Waldbaum, wie mit leisem Zittern reicht!

 

Spricht dich’s nicht frei, dann wage nie zu schreiten

In dieses Waldes Dom, deß Fluch dich bannt,

Der Sündrin gleich, die einst in alten Zeiten

Im Bußhemd vor der Kirchenpforte stand!

 

Der Armen reichen im Vorüberschweben

Ehrsame Bürger Mitleidsspenden mild;

Wer kann ihr Reinheit, Ehre wiedergeben,

Und Trost und Segen, der im Dome quillt?



(* 1808-04-11, † 1876-09-12)



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