Der Seeadler


Wob, König der Lüfte, für deinen Flug

Der Sturm dir die Schwingen, die weißen,

Daß sie geschwind, wie ein Atemzug,

Vom Meer gen Himmel dich reißen?

Hat dir die Sonne das Auge gefeit,

Daß du nicht droben erblindest,

Wenn du in blauer Unendlichkeit

Dem Sehrohr selber entschwindest?

 

Hoch, hoch, wo der Alpen mächtigste Piks

In Dämmernebel verschwinden,

Hinunter spähst du leuchtenden Blicks

Zu des Weltalls gähnenden Schlünden;

Und siehst von deiner himmlischen Wacht

Jenseits von der Erde Grenzen

Den Tag, der Abend nicht kennt noch Nacht,

Den unvergänglichen glänzen.

 

Wenn wirbelnd daher das Gewitter saust

Und aus unterstem Oceane

Die Flut aufpeitscht, daß sie himmelan braust,

Wiegst du dich auf dem Orkane;

Und ob in den Wellen, zu Bergen getürmt,

Auch ganze Flotten versinken,

Du jubelst, wo es am wildesten stürmt,

Der Windsbraut Odem zu trinken.

 

Das Frührot bleibt, das purpurnen Saums

Aufsteigt ob Meeren und Ländern,

Matt hinter dir, Beherrscher des Raums,

Zurück an den Himmelsrändern;

Ans Nordkap hörtest du wilden Schlags

Bei Nacht die Wogen noch branden

Und grüßest den Strahl des werdenden Tags

Schon hoch vom Gipfel der Anden.

 

Wie dir - o lang versunkene Zeit! -

Einst wollte zu ihren Flügen

Des Raumes weite Unendlichkeit

Kaum meiner Seele genügen;

Nun seufzt sie, gebeugt vom niederen Joch,

In des Lebens finsterer Enge;

Ach! daß sie nur einmal jubelnd noch

In den leuchtenden Aether sich schwänge!

 

In durstigen Zügen, voll und stark,

Die Luft des Himmels zu schlürfen,

Hinab zu der Schöpfung entlegenster Mark

Die Blicke senden zu dürfen -

O Adler! dir neid′ ich den seligen Tod,

Der dir dort oben bereitet,

Wenn die ewige Sonne ihr glühendes Rot

Um die brechenden Schwingen dir breitet!



(* 1815-08-02, † 1894-04-14)



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