Menschen bei Nacht


1899, Berlin-Schmargendorf

 

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.

Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht,

und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.

Und machst du nachts deine Stube licht,

um Menschen zu schauen ins Angesicht,

so musst du bedenken: wem.

 

Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt,

das von ihren Gesichtern träuft,

und haben sie nachts sich zusammengesellt,

so schaust du eine wankende Welt

durcheinandergehäuft.

Auf ihren Stirnen hat gelber Schein

alle Gedanken verdrängt,

in ihren Blicken flackert der Wein,

an ihren Händen hängt

die schwere Gebärde, mit der sie sich

bei ihren Gesprächen verstehn;

und dabei sagen sie: Ich und Ich

und meinen: Irgendwen.



(* 1875-12-04, † 1926-12-29)



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