Die Dryas


O Liebe, wie schnell verrinnest du,

Du flüchtige, schöne Stunde,

Mit einer Wunde beginnest du

Und endest mit einer Wunde.

 

Ein Jüngling irrt im Waldesraum,

Umspielt von goldnen Schimmern,

Und späht nach einem schönen Baum,

Sich draus ein Boot zu zimmern.

 

"Jungeiche mit dem stolzen Wuchs,

Du bist mir gleich die rechte,

Dich zeichn ich mit dem Beile flugs,

Dann ruf ich meine Knechte."

 

Er führt den Streich. Ein schmerzlich Ach

Macht jählings ihn erbleichen.

"Ich sterbe!" stöhnts im Stamme schwach,

"Die jüngste dieser Eichen!"

 

Ein Tröpfchen Blutes oder zwei

Sieht er am Beile hangen

Und schleuderts weg mit einem Schrei,

Als hätt er Mord begangen.

 

Schnell flüsterts aus dem Baume jetzt:

"Der Mord ist nicht vollendet!

Ich bin nur leicht am Arm verletzt.

Ich hatt mich umgewendet."

 

"Komm, Göttin", fleht er, "Waldeskind,

Dass ich Vergebung finde!"

Die Schultern schmiegend schlüpft geschwind

Die Dryas aus der Rinde.

 

Ein Dämmer lag auf Stirn und Haar,

Ein Brüten und ein Weben,

Von grünem Blätterschatten war

Der schlanke Wuchs umgeben.

 

Er fing den Arm zu küssen an

Die Stelle mit dem Hiebe,

Und, der er viel zu Leid getan

Die tat ihm viel zu Liebe.

 

"In meinem Baum - ist lauter Traum ..."

Sie schlüpft zurück behende

Und lispelt in den Waldesraum:

"Ich weiss, wen ich dir sende!"

 

Der Botin Biene Dienst ist schwer

Sie muss sich redlich plagen

Honig und Wermut hin und her

Waldaus, waldein zu tragen.

 

Einmal kam Bienchen wild gebrummt.

"Dryas, mich kanns entrüsten!"

Es setzt sich an den Stamm und summt:

"Ich sahs, wie sie sich küssten!

 

Sie ist ein blühend Nachbarkind

Muss ihn beständig necken -

Dich lässt er nun bei Wetter und Wind

In deinem Baume stecken!"

 

Ein schmerzlich Ach, als wände sich

Ein schlanker Leib und stürbe!

Das Laub vergilbt, die Krone blich,

Die Rinde bröckelt mürbe.



(* 1825-10-11, † 1898-11-28)



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