Das Heute


Das Heut ist einem jungen Weibe gleich.

Schlag Mitternacht wird ihm die Wange bleich.

Es schaudert. Einen vollen Becher fasst

Es gierig noch und schlürft in toller Hast.

 

Der üppge Mund, indem er lechzt und trinkt,

Entfärbt sich und verwelkt. Der Becher sinkt.

Langsam zieht es den Kranz sich aus dem Haar.

Das Haar ergraut, das eben braun noch war.

 

Tief runzelt sich das schöne schuldge Haupt.

Zusammenbricht das Knie, der Kraft beraubt.

Die Horen kleiden dicht in Schleier ein

Und führen weg ein greises Mütterlein.



(* 1825-10-11, † 1898-11-28)



Weitere gute Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer zum Lesen.