Mittsommerabendlied


Wie sich Lust mit leiser Klage

Wunderbar im Herzen mischt

Wann der längsten Sommertage

Spätes Abendroth erlischt!

 

Goldne Dämmerstreifen säumen

Nordwärts nur den Erdenrand;

Lichtvoll über dunkeln Bäumen

Ist der Himmel ausgespannt.

 

Seltne Sterne nur durchstrahlen

Bleich die glanzgetränkte Luft;

Aus weit offnen Rosenschaalen

Steigt der Erde Opferduft.

 

Doch die Blüthen sind gefallen,

Früchte schwellt die Junigluth;

Die verstummten Nachtigallen

Sorgen schon für junge Brut.

 

Ob der längste Tag vergangen,

Ob das Jahr sich wieder neigt,

Ob verwelkt des Frühlings Prangen,

Ob des Vogels Brautlied schweigt:

 

An dem Werk der ew′gen Dauer

Webt in Lüften, Wald und Flur

Selbstvergessen ohne Trauer

Weiter alle Kreatur.

 

Nur des Menschen Herz verzichtet

Niemals ohne Widerstreit,

Nur die Menschenseele dichtet

Eine Lenzesewigkeit.

 

Denn dies Herz vermag zu blühen

Wann sich längst das Leben neigt,

Diese Seele jung zu glühen

Wann der Herbst die Locken bleicht.

 

Herzensblüthen, Seelengluthen,

Hinter Nordens goldnem Rand,

Jenseits ferner Meeresfluthen

Such′ ich euch ein Märchenland.

 

Drüben dürft ihr euch entfalten,

Drüben in der Sehnsucht Reich

Lass′ ich euch gewährend walten,

Selbst verjüngt und göttergleich.

 

Wirklich nun dahin zu schweben

Lockt der Himmel wunderklar

Und ich muß die Arme heben –

Ach, sie sind kein Flügelpaar

 

Und der Lust ist leise Klage

Tief im Herzen beigemischt

Wann der längsten Sommertage

Spätes Abendroth erlischt.



(* 1819-02-08, † 1904-06-25)



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