Sommermorgen


Auf Bergeshöhen schneebedeckt,

Auf grünen Hügeln weitgestreckt

Erglänzt die Morgensonne;

Die tauerfrischten Zweige hebt

Der junge Buchenwald und bebt

Und bebt in Daseinswonne.

 

Es stürzt in ungestümer Lust

Herab aus dunkler Felsenbrust

Der Gießbach mit Getose,

Und blühend Leben weckt sein Hauch

Im stolzen Baum, im niedren Strauch,

In jedem zarten Moose.

 

Und drüben wo die Wiese liegt,

Im Blütenschmuck, da schwirrt und fliegt

Der Mücken Schwarm und Immen.

Wie sich′s im hohen Grase regt

Und froh geschäftig sich bewegt,

Und summt mit feinen Stimmen.

 

Es steigt die junge Lerche frei

Empor gleich einem Jubelschrei

Im Wirbel ihrer Lieder.

Im nahen Holz der Kuckuck ruft,

Die Amsel segelt durch die Luft

Auf goldenem Gefieder.

 

O Welt voll Glanz und Sonnenschein,

O rastlos Werden, holdes Sein,

O höchsten Reichtums Fülle!

Und dennoch, ach - vergänglich nur

Und todgeweiht, und die Natur

Ist Schmerz in Schönheitshülle.



(* 1830-09-13, † 1916-03-12)



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