Am Gletscher


Um Mittag, wenn zuerst

Der Sommer in′s Gebrige steigt,

Der Knabe mit den müden, heißen Augen:

Da spricht er auch,

Doch sehen wir sein Sprechen nur.

Sein Athem quillt wie eines Kranken Athem quillt

In Fieber-Nacht.

Es geben Eisgebirg und Tann′ und Quell

Ihm Antwort auch,

Doch sehen wir die Antwort nur.

Denn schneller springt vom Fels herab

Der Sturzbach wie zum Gruß

Und steht, als weiße Säule zitternd,

Sehnsüchtig da.

Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne,

Als sonst sie blickt

Und zwischen Eis todtem Graugestein

Bricht plötzlich Leuchten aus -- --

Solch Leuchten sah ich schon: das deutet mir′s. --

 

Auch todten Mannes Auge

Wird wohl noch Ein Mal licht,

Wenn harmvoll ihn sein Kind

Umschlingt und hält und küßt:

Noch Ein Mal quillt da wohl zurück

Des Lichtes Flamme, glühend spricht

Das todte Auge: ′Kind!

Ach Kind, du weißt, ich liebe dich!′ --

Und glühend redet Alles--Eisgebirg

Und Bach und Tann --

Mit Blicken hier das selbe Wort:

′Wir lieben dich!

Ach Kind, du weißt, wir lieben, lieben dich!′

 

Und er,

Der Knabe mit den müden heißen Augen,

Er küßt sie harmvoll,

Inbrünst′ger stets,

Und will nicht gehn;

Er bläst sein Wort wie Schleier nur

Von seinem Mund,

Sein schlimmes Wort

′mein Gruß ist Abschied,

mein Kommen Gehen,

ich sterbe jung.′

 

Da horcht es rings

Und athmet kaum:

Kein Vogel singt.

Da überläuft

Es schaudernd, wie

Ein Glitzern, das Gebirg.

Da denkt es rings --

Und schweigt -- --

Um Mittag war′s,

Um Mittag, wenn zuerst

Der Sommer ins Gebirge steigt,

Der Knabe mit den müden heißen Augen.



(* 1844-10-15, † 1900-08-25)



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