Abendschluß


Die Uhren schlagen sieben. Nun gehen überall in der Stadt die Geschäfte aus.

 

Aus schon umdunkelten Hausfluren, durch enge Winkelhöfe aus protzigen Hallen drängen sichdie Verkäuferinnen heraus.

 

Noch ein wenig blind und wie betäubt vom langen Eingeschlossensein

 

Treten sie, leise erregt, in die wollüstige Helle und die sanfte Offenheit des Sommerabendsein.

 

Griesgrämige Straßenzüge leuchten auf und schlagen mit einem Male helleren Takt,

 

Alle Trottoirs sind eng mit bunten Blusen und Mädchengelächter vollgepackt.

 

Wie ein See, durch den das starke Treiben eines jungen Flusses wühlt,

 

Ist die ganze Stadt von Jugend und Heimkehr überspült.

 

Zwischen die gleichgiltigen Gesichter der Vorübergehenden ist ein vielfältiges Schicksalgestellt –

 

Die Erregung jungen Lebens, vom Feuer dieser Abendstunde überhellt,

 

In deren Süße alles Dunkle sich verklärt und alles Schwere schmilzt, als wäres leicht und frei,

 

Und als warte nicht schon, durch wenig Stunden getrennt, das triste Einerlei

 

Der täglichen Frohn – als warte nicht Heimkehr, Gewinkel schmutziger Vorstadthäuser,zwischen nackte Mietskasernen gekeilt,

 

Karges Mahl, Beklommenheit der Familienstube und die enge Nachtkammer, mit den kleinen Geschwisterngeteilt,

 

Und kurzer Schlaf, den schon die erste Frühe aus dem Goldland der Träume hetzt –

 

All das ist jetzt ganz weit – von Abend zugedeckt – und doch schon da, und wartend wieein böses Tier, das sich zur Beute niedersetzt,

 

Und selbst die Glücklichsten, die leicht mit schlankem Schritt

 

Am Arm des Liebsten tänzeln, tragen in der Einsamkeit der Augen einen fernen Schatten mit.

 

Und manchmal, wenn von ungefähr der Blick der Mädchen im Gespräch zu Bodenfällt,

 

Geschieht es, daß ein Schreckgesicht mit höhnischer Grimasse ihrer Fröhlichkeit denWeg verstellt.

 

Dann schmiegen sie sich enger, und die Hand erzittert, die den Arm des Freundes greift,

 

Als stände schon das Alter hinter ihnen, das ihr Leben dem Verlöschen in der Dunkelheit entgegenschleift.



(* 1883-08-11, † 1914-10-30)



Weitere gute Gedichte von Ernst Stadler zum Lesen.